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The Trend is your Friend (Sonstiges)

Ulrich, Montag, 16.10.2017, 16:32 (vor 2382 Tagen) @ Scrutinizer

Da kann ich dir nicht widersprechen. Wir stehen zwar in Europa besser da als andere, aber wir haben durchaus Probleme die wir angehen müssen. Die Rentenreform die im Kern zwar notwendig war führt gerade bei Niedrigverdienern selbst wenn diese ihr Leben lang gearbeitet haben zu programmierter Altersarmut. Und gerade dieser Personenkreis ist nicht in der Lage Rücklagen zu bilden. Riester-Rente und ähnliches funktionieren nicht, erst recht nicht in Zeiten von Null-Zinsen. Obwohl der Arbeitsmarkt boomt finden Langzeitarbeitslose immer schwerer eine neue Beschäftigung. In den Städten explodieren die Mieten und die Preise für Wohneigentum. Dafür haben wir auf der anderen Seite eine stille Landflucht, die ländlichen Regionen bluten aus. Dies dürfte spätestens in ein, zwei Jahrzehnten dazu führen dass wir Gegenden bekommen in denen die Immobilienpreise geradezu zusammenbrechen werden, etc.

Das ist alles richtig. Doch zur Lösung der Probleme von Niedrigverdienern oder gar Arbeitslosen hat die AfD wenig zu bieten. Das ist vielen AfD-Wählern aber nicht bewusst, vermutlich weil es in der öffentlichen Auseinandersetzung gar nicht so weit kommt; andere Parteien und Journalisten halten sich mit Tabubrüchen auf, statt sachlich die Inhalte in den Fokus zu rücken. Das sieht man auch sehr gut in den USA. Trump schafft es auch immer wieder, absurde Nebelkerzen zu zünden, auf die sich alle stürzen, statt seine Politik zu sezieren.

Umfragen legen ja nahe dass die deutliche Mehrheit der AfD-Wähler zur Gruppe der Protestwähler gehört. Man fühlt sich egal ob objektiv berechtigt oder unberechtigt falsch behandelt und vernachlässigt und macht deshalb sein Kreuz bei der AfD, das vielfach vertretene rechtsradikale Gedankengut blendet man zumindest nach außen aus. Ein Grund könnte für mich sein dass sich die Welt rasant verändert und dies eine massive Verunsicherung verursacht. Als Reaktion will man zurück zu den alten, angeblich guten Zeiten. Dieses Gefühl dürfte vielfach recht diffus sein, ich vermute dass AfD-Wähler in der Regel Probleme dabei hätten exakt zu artikulieren was sie stört.

Wir spüren den Fortschritt im guten wie im schlechten deutlich stärker als unsere Vorfahren. Insbesondere die Welt der Kommunikation hat sich in den letzten zehn Jahren in Teilen völlig gewandelt, man denke nur an soziale Medien und Smartphones. Gleichzeitig bringt der Fortschritt auch enorme Unsicherheit mit sich. Menschen die vor zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren ins Erwerbsleben eingestiegen sind gingen zumindest in größeren Teilen davon aus ihren Renteneintritt beim gleichen Arbeitgeber zu erleben. Das ist heute anders. Und gerade in Ostdeutschland gibt es viele, die die Wende nicht wirklich verarbeitet haben, und das dürfte auch in den Familien nachwirken. Die DDR war zwar ein Staat der den Mangel verwaltet hat, auf ein Auto wartete man mehr als zehn Jahre. Aber gleichzeitig garantierte der Staat jedem der sich halbwegs an die Regeln hielt und vor allem nicht politisch aufmuckte einen sicheren Arbeitsplatz, egal ob jemand Alkoholiker war oder regelmäßig blau machte. Mit dem Zusammenbruch des Systems kam dann zwar das Westgeld und die bunte Konsumwelt, aber gleichzeitig brach die Wirtschaft weitgehend zusammen. Und ihre Jobs verloren haben keineswegs nur die "Lauschipper", sondern auch qualifizierte, engagierte Arbeitnehmer. Für mich ist das einer der Gründe dafür dass die AfD im Osten stärker ist als bei uns. Im Westen gab es zwar keinen dermaßen harten Bruch, aber der Strukturwandel war in den letzten Jahrzehnten vielerorts zu spüren. Im Ruhrgebiet muss man sich nur einmal anschauen wie die Mitarbeiterzahlen der großen Unternehmen gesunken sind, einige wie z.B. Opel sind komplett aus der Region verschwunden. Ein großes Dortmunder Stahlwerk ist komplett nach China verschifft worden, heute gibt es dort den Phoenix-See.

Verunsicherung führt dazu dass man sich Anker sucht. Und dieser Anker ist bei uns für einige die AfD. Man braucht zudem jemanden der Schuld an der Misere ist, und da bieten sich die Migranten an. Im Grunde sind diese vielfach nur die Projektionsfläche für Ängste. Dies erklärt für mich auch dass in Deutschland die Stimmenzahl für die AfD grob betrachtet antiproportional zum jeweiligen Anteil von Migranten in der Region ist.

Leider wird dieses Spiel zunehmend keineswegs nur von der AfD betrieben. Wenn ich beispielsweise Oskar Lafontaines Äußerungen nach der Bundestagswahl mit "Deutsche, Flüchtlinge nehmen Euch eure Wohnungen weg!" zusammenfasse, dann ist das sicherlich polemisch und ein wenig verkürzt, aber keineswegs falsch. In der Union gibt es mittlerweile Stimmen die sagen man solle sich die "Liste Kurz" zum Vorbild nehmen und ebenfalls einen deutlich rechtspopulistischeren Kurs fahren. Für mich ist das aber zu kurz gedacht. Man vergisst dass der "große Wahlsieger" in Österreich weniger als 32 Prozent der Stimmen bekommen hat. Und auf mehr würden CDU/CSU bei uns mit so einem Programm ebenfalls nicht kommen, eher weniger. Und eine FPÖ gibt es bei uns nicht. Die AfD vertritt zwar im Grunde das gleiche Programm, aber ein Bündnis mit ihr wäre weit von einer für die Regierungsübernahme notwendigen Mehrheit entfernt.

Will man die AfD wirklich bekämpfen, dann darf man zunächst einmal nicht ihre populistischen Parolen übernehmen, ansonsten macht man sie wie z.B. in Bayern oder Sachsen zu beobachten erst recht stark. Zweitens muss man genau wie Du es erwähnt hat heraus stellen dass die AfD auf die wesentlichen Fragen keine Antworten hat. Und drittens muss man die Probleme auch tatsächlich angehen. Aber ob das gelingen wird? Insbesondere die Union wirkt im Augenblick auf mich wie ein Hühnerhaufen.


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