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ARD Doku: Wir waren in der AfD (Politik)

FourrierTrans, Freistaat Sauerland, Freitag, 19.01.2024, 22:29 (vor 703 Tagen) @ Abseits
bearbeitet von FourrierTrans, Freitag, 19.01.2024, 22:35

Ein zweiter Punkt ist meinem Eindruck nach ein nicht-ökonomischer im engeren Sinne, wenngleich auch im Ursprung sicherlich auf den mittlerweile doch relativ hart gelebten Turbokapitalismus zurückzuführen. Ganz stumpf gefragt, woran soll sich eine Gesellschaft ausrichten und orientieren, die derart hart konsumiert wie z.B. in den USA oder auch bei uns, wo Singlehaushalte rasant gestiegen sind, wo Gemeinschaft (in der Großstadt ohnehin schon lange (was auch mal anders war, wenn man sich an die Kumpels und Taubenzüchterclübchen in Pott erinnert), auf dem Lande aber auch zunehmend) eine absolute Rarität geworden ist? Ich bin mittlerweile recht sicher, dass hier ebenfalls sehr viele Gründe im Verborgenen liegen, für diese zerstörerische Unzufriedenheit/Aggression.


Mal zum Thema Großstadt etwas, da hast du ja scheinbar schlechte Erfahrungen gemacht. Ich habe die letzten 40 Jahr abwechselnd in großen, in kleinen Städten und auf dem Land gelebt. In den Straßendörfern in Brandenburg u. Mecklenburg gibt es keine Gemeinschaft. Vielleicht gab es vor dem Mauerfall verordnete Gemeinschaften, aber seitdem sind die Leute sich spinnefeind, weil der eine hat sich die Ländereien der LPG ergaunert, der zweite die Kasse der SED geplündert und der dritte war vermutlich bei der Stasi. Es gibt keine Kneipe, keine Kirchengemeinde, vielleicht ein Sportverein und die Feuerwehr. Das war es.


Das ist aber da normal, weil eine große Masse an jungen Menschen seit einigen Jahrzehnten die Regionen verlassen hat. Deswegen sterben da ja auch viele Orte aus. Die Gemeinschaft mit ihnen.

In Großstädten sind jeden Tag zehntausende Menschen gemeinsam in Restaurants, Kneipen, Cafés, Schachvereinen, in der Oper oder in unzähligen Initiativen, die für oder gegen etwas sind. Vielleicht ist das Angebot an Brieftaubenvereine kleiner geworden, aber auch in Großstädten wird in Kleingartenvereinen, Parks oder auf Balkonen und Dächern mit Freunden, Arbeitskollegen oder Nachbarn zusammen gegrillt und Bier getrunken.

Vergangene Woche gab es eine Meldung, dass auch im Osten viele Menschen gerne in der Stadt leben.

Leipzig und Rostock in Top Ten der lebenswertesten Städte

Es lebe die Großstadt.


Ich habe beides erlebt. Bis zum Studium Dorf, Richtung Sauerland, dann etwas mehr als 10 Jahre Großstadt mit Bochum und Dortmund. Das Leben in der Großstadt habe ich in meinen 20ern sehr genossen. Jetzt ist es natürlich immer schwer, wie es gewesen wäre...z.B. wie wäre es gewesen, wenn ich in der Großstadt aufgewachsen wäre. Diesen Aspekt kann ich ja jetzt beispielsweise gar nicht bewerten, deswegen lässt sich hier auch keine finale Aussage treffen, denke ich.
Was mir aber aufgefallen ist, ist die Tatsache, das Freundschaften bzw. Beziehungen in der Großstadt häufig flüchtiger sind. Die Ur-Großstädter, die ich kenne, haben ganz oft Freundschaften, die sich im Erwachsenenalter gefunden/austangiert haben. Bei mir, bzw. denjenigen die ich vom Lande kenne und mal in einer Großstadt gelebt haben (oder auch nicht), ist es so, dass man die bis heute engsten Freunde seit dem Kindergarten kenne und man die erste Zeit auch zusammen in der Schule war. Die Intensität und Länge der Freundschaften haben ihren Ursprung fraglos in der Überschaubarkeit des Ländlichen. Auch gewisse Aspekte zur Familiennähe habe ich immer anders erlebt, bei den Ur-Großstädtern. Wie gesagt, sind aber alles rein subjektive Erfahrungen.


Freundschaften und vor allem enge Freundschaften sind jetzt aber etwas anderes als Gemeinschaft. Meine engsten Freundschaften sind auch noch aus meiner Kleinstadtjugend. Vermutlich hauptsächlich eine Sache des eigenen Alters, unabhängig ob Klein- oder Großstadt. Aber es mag schon sein, dass sich enge Verbindungen in Großstädten schneller verlieren als auf dem Land. Das muss aber nicht immer grundsätzlich schlecht sein, erweitert vielleicht sogar den Horizont und bietet neue Chancen.

Ausgangspunkt war deine Einschätzung, dass fehlende Gemeinschaft einer der Gründe seien könnte für die zerstörerische Unzufriedenheit/Aggression im Land. Ich glaube eher, dass sich die Menschen im Netz radikalisieren. Die Algorithmen der sozialen Netze haben früh erkannt, dass Gewalt, Angst, Hass und Hetze viel Traffic erzeugen und durch das Zusammenführen von ausgewählten Meldungen und Menschen wird dieser Traffic auch in Zukunft immer weiter anwachsen. Für mich der Hauptgrund, aber nicht mehr rückgängig zu machen.


Das stimmt natürlich. Sowas ist auch immer alles sehr schwer zu quantifizieren oder zu bewerten. In Großstädten war die Anonymität auch stets viel größer als im Ländlichen, was Vor- und Nachteile hat. Ich glaube aber, was ich jedoch nicht beweisen kann, dass heutzutage viele Menschen viel einsamer sind, als noch vor 40 Jahren, quer durch alle Altersgruppen. Nicht im Sinne von, dass physisch keine Menschen um sie herum sind und sie alleine im Wald leben, sondern dass ihr Leben von oberflächlichen menschlichen Beziehungen geprägt ist. Insbesondere in den Großstädten, aber auch zunehmend auf dem Lande. Und dass teilweise relativ oberflächliche Dinge das Leben der Menschen antreiben. Ich (persönlich) finde es auch immer bestürzend, wie viele Menschen ich kenne, die nahezu ihre ganze Identifikation aus ihrem Berufsleben ziehen und hier dann auch den Jobs "hinterherziehen". Im Grunde fernab jeder gemeinschaftlicher Werte, ohne das jetzt böswillig zu meinen. Ich habe schon die Vermutung, dass soetwas unterbewusst zu einer gewissen "seelischen Ziellosigkeit" führt, was dann eventuell auch in solchen Ausprägungen gesellschaftlicher Entwicklungen mündet.
Der konkrete Schritt einer Radikalisierung erfolgt sicherlich im Netz und durch Falschmeldungen.


Ich fasse das mal für heute zusammen: Wir brauchen mehr echte Liebe ;-)

Es klingt esoterisch/zu romantisch, aber ich glaube das ist wirklich auch ein Treiber. Sowohl im Kontext von Liebesbeziehungen/Ehe (Tinder und co. als Konzepte sprechen für sich eigentlich, die steigende Zahl der Singlehaushalte im Grunde auch), als auch von gewöhnlichen zwischenmenschlichen Beziehungen. Ein Arbeitskollege von mir ist am Prenzlauer Berg großgeworden. Ist jetzt so um die 40, ist also schon ein paar Tage her. Seine Familie und Bruder leben noch dort. Der erzählt mir immer, früher war das ein Kiez mit Eigenleben, selbst mitten in einer Metropole. Natürlich nicht in der Form wie auf dem Dorf, aber man kannte sich, teilweise über Generationen. Man kannte den Opa vom Matze, die Tante aus dem Kiosk, den Kneipier vom ersten Biertrinken, den Ahmet vom Dönerladen usw. Heute, so berichtet es seine Familie (er selbst wohnt schon 10 Jahre in NRW mittlerweile), ist das komplett weg. Die Menschen und Lokalkitäten ändern sich ständig, im Grunde die reine Anonymität. Nur um mal so grob zu beschreiben, was ich meine. Das muss alles per se nicht schlecht sein, aber ich glaube, da bleiben auch viele Persönlichkeiten/Seelen "auf der Strecke", oder wie man das sagen soll.


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