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Putins Rede als Transkription - Erklärung (Politik)

prosakind, wäre-gerne-in-Graz, Mittwoch, 23.02.2022, 13:34 (vor 1396 Tagen) @ Sascha

Natürlich kann man das alles ins Lächerliche ziehen - und sollte es vielleicht auch. Es würde aber auch helfen, den Blick auf die Gegenerzählung zu werfen. Und mit ein wenig kritischer Distanz wird dann auch die gesamte Geschichte der modernen Ukraine zu dem, was sie mit allen weltweiten Nationalgeschichten verbindet, zu einem nationalistischen (Eliten-)Konstrukt. Das es sich bei allen Nationalstaaten um "vorgestellte Gemeinschaften" (Benedict Anderson) handelt und sie einzig das Produkt politisch-gewollter und durchgesetzter Abgrenzungspolitiken sind, ist ja eigentlich common sense. Bei der Ukraine, wo dieser Prozeß halt nicht im 18./19. oder 20. Jahrhundert abgeschlossen wurde, sondern wo das mult-"ethnische" Grenz- und Durchzugsland eben lange ein staatlich zerrissener Raum blieb und erst spät für einige Jahrzehnte adminstrativ-zusammengeführte Verwaltungseinheit eines im wahrsten Sinne "internationalen" Staatenzusammenschlusses, wird halt in nicht wenigen Argumentationen dieser historischer Charakter verleugnet.

Vergegenwärtigt man sich, dass der "Nationalwerdungsprozess" der Ukraine - abgesehen von einigen elitären Vorläufern im 19. Jahrhundert und dort auch uneinheitlich unter unterschiedlichen Herrschaftsformen - erst so richtig infolge der Grenzverschiebung des Zweiten Weltkriegs und der von den Nazis in Gang gesetzten Säuberung des Raumes von (unmittelbar) jüdischer und (mittelbar) polnischer und deutscher Bevölkerung einsetzen konnte, realisiert man, dass das, was sich da 1991 von der zerfallenden Sowjetunion losgesagt hatte, eben keine homogene und von den bösen Kommunisten unterdrückte Nation war. Hier ist vermutlich die Putin'sche Beschreibung von der "Verwaltungseinheit" gar nicht so falsch, auch wenn das durch den Schaum vor dem Mund schwer zu erkennen ist. So war in den 1990er und frühen 2000er Jahren ein Auseinanderbrechen der Ukraine in einen westlich-orientieren und historisch habsburgischen Westteil und einen russophilen Ostteil ein stets diskutiertes Szenario - ebenso wie die Abspaltung der sich vollständig von diesen beiden Gebieten unterscheidenden Krim. Erst mit der (westlich geförderten) Diskurshegemonie der eine historische "Ukraine" proklamierenden nationalistischen Gruppierungen wurde hier ein Nationalisierungsprozess in die Wege geleitet, dessen Nebenwirkungen uns auch in der gegenwärtigen Krise begegnen.

Nein, dass soll nicht das russische Vorgehen legitimieren und die Putin'sche Argumentation en gros für richtig und nachvollziehbar erklären. Es soll aber vielleicht den ein- oder anderen Grauton in die propagandistische Schwarz-Weiß-Erzählung beider Parteien bringen.


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